Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2019
Carmen Leicht-Scholten ist ganz in ihrem Element: Mit der nötigen Freiheit durch Headset und Laserpointer ausgestattet durchquert sie den Raum hinter dem Rednerpult von rechts nach links. Sie spricht engagiert und schnell. Immer wieder unterbricht sie ihren Vortrag durch Fragen an die angehenden Ingenieur/-innen und Technikjournalist/-innen der Hochschule Bonn-Rhein Sieg, nimmt deren Einschätzungen und Fragen auf und entwickelt so zusammen mit dem Auditorium das Thema ihres Vortrags: Die soziale Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren.
Damit lebt die Professorin der RWTH Aachen die zentrale Botschaft ihres Vortrags am 28. Juni quasi vor: Ja, Ingenieurinnen und Ingenieure haben insbesondere in einer Zeit, in der die Technik unser aller Leben immer mehr durchdringt, auch eine soziale Verantwortung. Dieser gerecht zu werden, ist aber gar nicht so schwer: Möglichst viele und unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen sollten beteiligt werden, wenn etwa Ideen zu den Funktionalitäten von Smart Homes entwickelt und erste Umsetzungen diskutiert werden.
EU-Konzept Responsible Research and Innovation
Mit ihren Thesen ist die Inhaberin der sogenannten Brückenprofessur für Gender und Diversity in den Ingenieurwissenschaften nicht allein. Sie weiß sogar die EU-Kommission hinter sich. Denn diese hat im Zuge der Entwicklung des bald auslaufenden Europäischen Forschungsrahmenprogramms Horizon 2020 das Konzept für „Responsible Research and Innovation (RRI)“ ausgearbeitet. Auf einer eigenen Website werden die sechs normativen Richtlinien der RRI erläutert und Umsetzungsszenarien aufgezeigt: Ethik, Gleichstellung der Geschlechter, Unternehmensführung mit geteilter Verantwortung, freier Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, aktive Einbeziehung der Bürger/-innen in Forschungs- und Entwicklungsprozesse und entsprechende Bildung, die sie hierzu in die Lage versetzt.
Ethik-Grundsätze des Vereins Deutscher Ingenieure
Doch auch auf deutscher Ebene hat die Professorin Rückendeckung. Sie wirft die Ethischen Grundsätze des Ingenieurberufs des VDI (Verein Deutscher Ingenieure) an die Wand, und es entsteht der Eindruck, dass manch eine/r staunt, als er oder sie dort liest, Ingenieure und Ingenieurinnen sollten nachhaltige Lösungen und sinnvolle Entwicklungen vorantreiben und sich ihres Handelns in technischer, gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Sicht bewusst sein. Sie sollten fach- und kulturübergreifend über Wertevorstellungen diskutieren und sich zur ständigen Weiterbildung verpflichten. Leicht-Scholten konstatiert nüchtern: „Die Leitlinien zur sozialen Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren sind da; es kennt sie nur keiner.“ Daher ist es ihr Anliegen, diese in Ausbildung und Studium zu verankern.
Diverse Crash-Test Dummys
Hierbei ist der Professorin qua ihrer Denomination die Berücksichtigung diverser Bedürfnisse an die Technikentwicklung besonders wichtig. Sie erläutert dies anhand des bekannten, aber sehr einleuchtenden Beispiels von Crash-Test Dummys. Die Position der Autogurte orientierte sich zunächst an einem 80 Kilogramm schwerer Durchschnitts Mann, und bot damit vielen, die dieser Norm nicht entsprachen, keinen Schutz, sondern war vielmehr gefährlich (wie z.B. für schwangere Frauen). Mittlerweile gibt es unterschiedliche Dummies, die die Proportionen von Männern, Frauen und Kindern, kleinen und großen Menschen wiedergeben und dadurch zu mehr Sicherheit für alle führen. Ein Team aus diversen Entwickler/-innen hätte vielleicht eher ein Gurtsystem entwickelt, das verschiedenen Körpergrößen, Geschlechtern und Proportionen angepasst ist, so die Gender- und Diversity-Expertin.
Lösungen durch Dialog
Ingenieur/-innen, die ihre Verantwortung in der Gesellschaft aktiv gestalten, sollten sich also fragen wer ihre Produkte anwenden wird. Zusätzlich könnten sie ihre Anwender/-innen fragen, welche Wünsche sie an eine neue technische Entwicklung haben. Dies ist insbesondere bei den großen gesellschaftlichen Herausforderungen, wie Globalisierung, Klimawandel und Ressourcenknappheit, neue Arbeitsformen durch Digitalisierung oder weltweite Gesundheit, von Bedeutung. In anderen Ländern, wie den USA, ist man hier schon weiter, so Leicht-Scholten. Aber auch deutsche Unternehmen, die international agieren, haben sich dem Konzept der verantwortungsvollen Forschung und Technologie-Entwicklung verschrieben. „In meine Vorlesungen lade ich gerne Personalverantwortliche großer international agierender Unternehmen ein“, berichtet die Professorin, „diese erklären den Studierenden dann, welchen Mehrwert dies für das Unternehmen hat: Stärkung der Glaubwürdig- und Innovationsfähigkeit sowie Wettbewerbsfähigkeit durch ein Alleinstellungsmerkmal. Umgekehrt ermuntert sie die angehenden Ingenieur/-innen, nach den Ethik-Regeln eines Unternehmens zu fragen, wenn sie sich dort bewerben.
Deutscher Ethik-Rat ohne Ingenieur/-innen
Noch hat auch die Politik Ingenieurinnen und Ingenieure offenbar nicht als potenzielle Ratgeber/-innen bei ethischen Fragen entdeckt. Und es bedarf gefühlt sieben Antworten der Studierenden auf die Frage, wer aus ihrer Sicht im Deutschen Ethikrat sitzen sollte, bis zuletzt eine Studentin auf die Idee kommt, dass ein Ingenieur oder eine Ingenieurin doch auch dazu gehören sollte. „Fehlanzeige“, löst Leicht-Scholten die aufgekommene Spannung auf, „bis heute sind dort noch keine Ingenieurinnen und Ingenieure vertreten“.
Carmen Leicht-Scholten war eine der Vortragenden der Ringvorlesung zur Technik- und Umweltethik an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, die sich im Sommersemester 2018 dem Thema „CO2-Entzug – Climate Engineering – Negativemissionen“ gewidmet hat. Weitere Informationen zu der von Professorin Dr. Katharina Seuser seit 2013 jährlich organisierten Ringvorlesung finden Sie unter www.technik-umwelt-ethik.de.
/Susanne Keil/Deliah Michely
Grafik: Fundación Bancaria „la Caixa“: RRI -Tools, European Project for Responsible Research and Innovation Toolkit. Online unter: https://www.rri-tools.eu/de