Gesche Neusel veranstaltet an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg Ferienkurse für Mädchen. Das Ziel: Mehr junge Frauen für MINT-Berufe gewinnen. Wie die Biologin Mädchen für Elektrotechnik begeistert – ein Porträt.
In Jeans und gelbem Strickpullover geht sie durch den kleinen Raum. In der Mitte ein Gruppentisch, an dem acht Mädchen kleine Pappkisten bunt anmalen, an den Wänden rechts und links sitzen weitere sechs Mädchen. Die Hälfte lötet an grünen Platinen, die andere Hälfte zeichnet am Computer Pferde, Blumen, Schriftzüge. Im Minutentakt geht ein Arm nach oben „Gesche das geht nicht“, „Ich glaube hier fehlt ein Teil, Gesche“ „Jetzt ist alles braun, dabei sollte es doch rot werden“, „Mist, jetzt ist das Loch zu, Gesche wir müssen es wieder aufpusten“.
Gereizte Stimmung? Nicht die Spur. Eine nach der anderen geht Gesche Neusel ab, pustet zugelötete Löcher auf, mischt Farben zusammen, sucht in Baukästen nach Schraubenmuttern oder löst Computerprobleme. Und am Freitag um Punkt 12 Uhr stehen 14 Mädchen mit einem Lächeln im Gesicht im Innenhof der Hochschule und posieren stolz mit ihren selbstgebastelten Radios für das Gruppenbild.
Girls explore technics together
Im Sommer 2016 veranstaltete Gesche Neusel ihren ersten Ferienkurs für technikinteressierte Mädchen an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS). Seitdem hat sie sich einen Namen gemacht. Einige Mädchen kommen – sofern es die Urlaubsplanung der Eltern zulässt – zu jedem der von ihr angebotenen Ferienkurse. Offiziell ist sie die „Komm mach MINT“-Beauftragte an der HBRS. Sie soll mit den Kursen mehr Mädchen für MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) – Studiengänge begeistern. Daher auch der Name „GET together“ für die Ferienprojekte. Das steht auf der einen Seite für das Zusammenkommen und gemeinsame Arbeiten, auf der anderen Seite für „Girls Explore Technics together“. Es geht also darum, dass Mädchen ungezwungen gemeinsam Technik entdecken können.
Von Radios über Wecker, Solarautos, Lego-Roboter bis hin zu solarbetriebenen Powerbanks – die angebotenen Themen sind so vielseitig wie die Techniken, mit denen die Mädchen in den Kursen arbeiten. Manchmal sollen sie löten, manchmal schrauben, mal arbeiten sie mit Pappe und Flüssigkleber, ein anderes Mal gestalten sie am Computer Grafiken, die dann von einer Maschine aus Schaumstoff ausgeschnitten werden. Die Herausforderung? „Ich muss mich immer neu einarbeiten, um auch mithalten zu können, damit ich den Mädchen neue Dinge bieten kann“, so Gesche Neusel.
Der Traum von Wölfen in Kanada
Die heute 35-Jährige, die rein äußerlich auch ohne Weiteres als Mittzwanzigern durchgeht, wusste schon früh, was sie einmal werden möchte: Biologin. Am liebsten Verhaltensbiologin, damit sie in Kanada Wölfe beobachten kann. „Daran habe ich auch erst mal lange festgehalten. Aber irgendwann musste ich einsehen, dass ich auf ein anderes Pferd setzen muss“, erzählt sie selbst. Doch zunächst verfolgte sie ihren Traum: Nach der Realschule machte sie Fachabitur und eine Ausbildung zur Biologisch-technischen Assistentin. Anschließend kam endlich das geplante Biologie-Studium an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Mit Abgabe der Bachelorarbeit war sie dann bereits schwanger, doch auch das war erst einmal kein Problem. Als sie hochschwanger im Master-Studium eine Dozentin traf, von der sie wusste, dass sie auch Kinder hatte und dennoch promovierte Biologin geworden war, fragte sie sie kurzerhand um Rat. „Du darfst einfach nie ganz stehen bleiben, denn dann fängst Du nicht wieder an. Mach‘ lieber viele kleine Schritte als keine“, empfahl sie daraufhin Gesche Neusel. Und so machte sie es. „Ich habe am Ende doppelt so lange gebraucht wie vorgesehen. Aber was macht das schon, ich habe es geschafft“, erzählt sie nicht ganz ohne Stolz. „Aber dann ist mir klar geworden, dass ich nicht Vollblut-Wissenschaftlerin in Teilzeit sein kann.“ Die Promotion kam also nicht in Frage und der Traum von den kanadischen Wölfen zerplatzte.
„Da gibt es eine Lücke, die kann ich füllen.“
Doch Neusel blieb eben nicht stehen. Ihr Studium finanzierte sie sich mit dem Unterrichten von Erwachsenen in Physik und Chemie sowie mit der Arbeit in einem Kinderheim und der Inobhutnahme, also der vorläufigen Notunterbringung von Kindern durch das Jugendamt. „Da habe ich schon gemerkt, dass mir die Arbeit mit Kindern liegt“, denkt sie zurück. Als dann nach dem Studium das Forschungsmuseum König in Bonn auf sie aufmerksam wurde, musste sie nicht lange überlegen.
Freiberuflich brachte sie Jugendlichen die Naturwissenschaften näher, in einem besonderen Projekt dort arbeitete sie mit eher bildungsfernen Kindern. Ihre Erfahrung mit Kindern aus dem Kinderheim kam ihr hier zugute. Und dann wurde die Stelle an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg frei. „Ich wusste, dass ich mit meinem naturwissenschaftlichen Studium und der Erfahrung mit Kindern diese Lücke gut füllen könnte. Ich wollte das unbedingt“, erzählt sie heute.
„Sie wirkt selbst noch so jung, aber lässt die Mädchen nicht auf den Tischen tanzen“
Annegret Schnell, Gleichstellungsbeauftragte an der HBRS und Vorgesetzte von Gesche Neusel schätzt ihre Arbeit sehr. Mit einer Waffel in der Hand setzt sie sich zu Neusel in das Büro, dessen Wände mit bis unter die Decke gestapelten Kisten voller Utensilien für die Ferienprojekte gefüllt sind, und tauscht sich mit ihr über die bevorstehenden Projekte aus. „Gesche hat ein Herz für diese Arbeit“, erzählt sie. Was sie besonders an ihr schätze? Als Biologin habe sie mit der Informatik und Elektrotechnik vorher nichts zu tun gehabt. Sie habe sich in alles eingearbeitet und wird nicht müde, immer weitere Dinge zu erlernen. Als nächstes steht das Einarbeiten in den 3D-Druck auf dem Plan. Damit möchte Neusel dann zum Beispiel die Gehäuse für Powerbanks herstellen.
„Gesche hat einen super Draht zu den Mädchen. Sie wirkt selbst ja noch so jung und lässt die Mädchen trotzdem nicht auf den Tischen tanzen“, beschreibt Annegret Schnell, die selbst Informatik studiert hat. Juliane Orth, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der H-BRS und Kollegin von Neusel, charakterisiert sie sehr ähnlich und fügt hinzu: „Gesche hat ein unglaublich großes Netzwerk an Menschen und Projekten. Sie hat aber auch einfach eine sehr freundliche, positive und offene Art.“
Zwischen Lötkolben und TikTok
Die Herausforderungen ihres Jobs weiß Gesche Neusel zu bewältigen. „So wie ich mich in den 3D-Druck einarbeiten muss, musste ich mich auch in Instagram und im Moment in TikTok einarbeiten“, erzählt sie mit einem Lachen. TikTok ist eine Videoplattform, die ursprünglich insbesondere für die Lippensynchronisation von Liedern gedacht war, mittlerweile aber von Jugendlichen als eigenes soziales Netzwerk genutzt wird. Neusel sieht ihre Aufgabe in den Ferienkursen nicht nur darin, den Mädchen Löten, Schrauben oder Programmieren näherzubringen: „Wenn die Mädchen so viel Zeit mit Instagram oder TikTok verbringen, müssen manchmal eben andere Dinge etwas kürzer behandelt werden.“ Medienkompetenz zu vermitteln gehöre genauso zu ihren Aufgaben und nur dann könne sie mit den Mädchen auf Augenhöhe kommunizieren.
Was die Schattenseiten ihres Jobs seien? Ihr Mann könne als Lehrer seine Schützlinge über einen längeren Zeitraum begleiten. „Die Lehrer*innen beschweren sich, sie hätten nur anderthalb Stunden mit den Schüler*innen. Aber die haben sie ja in der nächsten Woche wieder“, echauffiert sich Neusel amüsiert. Ihr falle es manchmal schwer, nach den vier Tagen des Ferienkurses wieder loszulassen. Sie würde gerne sehen, was aus den Mädchen in der Zukunft wird und wie sie sich entwickeln. Doch, und das wisse sie sehr zu schätzen: „Bei mir können sich die Mädchen ausprobieren und ihr Interesse für Technik erst entdecken, ganz ungezwungen ohne den schulischen Druck.“
/Paulina Zacharias