Chancenungleichheiten aus der analogen Welt werden in die digitale übertragen. Diese These untermauert Barbara Schwarze, Professorin für Gender- und Diversity-Studies an der Hochschule Osnabrück, in ihrem Aufsatz zur Digitalisierung der Arbeitswelt mit den Ergebnissen verschiedener Studien.

Zwar ist diese Forschungssynopse der Vorsitzenden des Kompetenzzentrums bereits 2017 erschienen, die Ergebnisse sind aber – insbesondere vor dem Hintergrund des aktuellen Homeschoolings und des Online-Studiums – nach wie vor von großer Relevanz.  So zeigt eine Studie des Kompetenzzentrums Technik-Diversity-Chancengleichheit speziell zu jungen Frauen und Digitalisierung: Die Kompetenzen von Frauen im Bereich von Programmiersprachen und dem Einrichten von Netzwerken sind deutlich geringer als die von Männern. Dieser Unterschied tritt schon bei den unter 20-Jährigen auf. Schwarze folgerte bereits 2017, „dass neue Zugänge für Frauen bereits entlang der allgemeinen schulischen Bildung entstehen müssen.“ (Schwarze 2017: 90).

Männer liegen in digitaler Kompetenz vorne

Auch der „Measuring the Information Society Report“ der International Telecommunication Union von 2016 zeigt, dass Männer und Frauen die digitalen Möglichkeiten unterschiedlich nutzen. In fast allen Entwicklungs- und Industrieländern laden Männer mehr Software oder Applikationen herunter und verwenden häufiger E-Banking-Dienste und Nachrichten als Frauen. Frauen hingegen nutzen Soziale Netzwerke häufiger als Männer und recherchieren eher nach Gesundheitsinformationen. Der Report kommt zu dem Schluss, dass Männer in 26 von 41 Ländern höhere Anteile in allen Bereichen der digitalen Kompetenzen haben.

Das bisschen Haushalt

Laut des „D21-Digital-Index 2016“ der Initiative D21 nutzen Frauen digitale Anwendungen pro Tag bis zu 49 Minuten weniger als Männer. Schwarze verbindet diese Erkenntnis mit der Studie von Hobler, Klenner, Pfahl, Sopp und Wagner (2017) zu unbezahlter Arbeit. Sie besagt, dass die Hauptlast von Haushaltstätigkeiten immer noch bei Frauen liegt, auch wenn diese voll berufstätig sind. Laut Schwarze haben Frauen daher weniger Zeit zur Verfügung. Die Nutzungsdauer digitaler Anwendungen steigt insgesamt mit dem Einkommen, auch bei Frauen.

Das Sorgenkind Informatik

Bemühungen wie der Girls’Day fühen zu einem höheren Frauenanteil in vielen männlich konnotierten Studiengängen. Die Informatik hingegen ist ein Sorgenkind. Auch wenn seit 2006 der Anteil von Frauen steigt, zeigen verschiedene Studien, dass dieser Trend nicht stabil ist. Die schwankenden Faurenanteile in der Informatik können auf mehrere Ursachen zurückgeführt werden. Die Genderforscherin Ulrike Erb führt den Anstieg Mitte der 1970er Jahre darauf zurück, dass Studienanfängerinnen die Informatik zum damaligen Zeitpunkt mit anwendungsorientierter Mathematik assoziierten. Heidi Schelhowe, damals promovierte Informatikerin, führt den Einbruch an Studienanfängerinnen Anfang der 1990er Jahre auf eine stärkere Profilierung als technische Disziplin zurück. Schwarze schlussfolgert aus den schwankenden Zahlen, dass Frauen sich in der Informatik bislang nicht etablieren konnten (Schwarze 2017: 98).

Fachinformatik-Ausbildung – Sorgenkind Nr. 2

Bei dem Ausbildungsberuf zur Fachinformatiker*in sieht dies noch gravierender aus: 2015 lag der Frauenanteil bei 6,8 Prozent. Laut der Genderauswertung des D21-Digital-Index 2016 gab es zwischen den unter 30-jährigen Männern und Frauen kaum Unterschiede in der Kompetenz bei MS-Office Anwendungen. Erhebliche Unterschiede deckte die Auswertung allerdings bei technischen Anwendungen, Webanwendungen, Programmiersprachen und dem Einrichten von Netzwerken auf. Während 37 Prozent der unter 20-jährigen Männer eine Programmiersprache beherrschten, konnte dies nur ein Prozent der Frauen. Nur 25 Prozent der Frauen konnten ein Netzwerk einrichten, im Vergleich zu 56 Prozent der Männer.

Frauen fehlt das Technikselbstbild

Laut Schwarze ist der Anteil von Frauen im Berufsfeld der Fachinformatiker*innen so gering, da die Beschreibung des Berufsfeldes unklar lässt, ob die Fähigkeiten vorausgesetzt oder während der Ausbildung erworben werden können. Und da Frauen diese Fähigkeiten in der Regel nicht vorher erworben haben, finden sie sich in der Beschreibung nicht wieder. Sie haben weder ein digitales Technikselbstbild entwickelt, noch Erfahrungen in den Bereichen sammeln können. Schwarze prognostiziert: „Somit wird ein Anstieg der Zahlen an Bewerberinnen für IT-Ausbildungsberufe nur dann zu erwarten sein, wenn sie auf individueller Ebene praktische Erfahrungen machen können, die eine Überprüfung eigener Interessen, Fähigkeiten und Berufsmotive ermöglichen.“ (Schwarze 2017: 96)

Propädeutika als Schlüssel zum Erfolg

Die Hochschule Osnabrück ermöglicht es (Fach-)Abiturientinnen, die mathematisch-naturwissenschaftlich interessiert sind, ein Propädeutikum zu machen. Bei einem Propädeutikum handelt es sich um einen sechsmonatigen Kurs in Kooperation mit Unternehmen aus der Region. So können interessierte Studentinnen einen Einblick in das Studium und den Beruf bekommen.

„Sie können damit ein technisches Selbstkonzept und Selbstwirksamkeitserwartungen in Studium und Praxis entwickeln und sich auch in der digitalen Welt als kompetent erfahren.“

Schwarze 2017: 96

Mehr als 85 Prozent der Teilnehmerinnen entscheiden sich laut Schwarze nach dem Propädeutikum zu einem MINT-Studium oder einer MINT-Ausbildung. Nebenbei erfahren die Unternehmen und Lehrenden von der Vielfalt der Absolventinnen und lernen so einen realistischeren Blick für ihre Potenziale zu entwickeln. Laut Schwarze beweist dieses Beispiel, „dass die Integration der Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechterforschung in die Entwicklung von MINT-Propädeutika zu einer erfolgreichen Steigerung des Anteils von Frauen in den Studiengängen führen kann“ (Schwarze 2017: 97). Propädeutika könnten somit eine effektive Maßnahme sein, um mehr Frauen Erfahrungen in der Informatik zu ermöglichen und sie in die Digitalisierung der Gesellschaft zu integrieren.

Kommentar

Die von Schwarze zusammengetragenen Studienergebnisse sind vorwiegend für Genderforscherinnen und Fachbereichsleitungen an Hochschulen und Universitäten, aber auch Unternehmenschef*innen und Eltern interessant. Die Studiensynopse von Barbara Schwarze zeigt wieder, dass sich die in den 1980er Jahren erstmals von der amerikanischen Wissenschaftsforscherin und Philosophin Donna Haraway geäußerte Hoffnung, dass durch die Technisierung gesellschaftliche Ungleichheiten wie auch das Geschlechterverhältnis überwunden werden könnten, nicht bestätigt hat. Jedoch ermöglicht die Digitalisierung der Arbeitswelt gesellschaftliche Probleme zu entdecken, aufzuzeigen und zu lösen. Sie ist eine Chance und ein Werkzeug.

Zu diesem Schluss kommt auch Aysel Yollu-Tok, die Vorsitzende der Sachverständigenkommission für den Dritten Gleichstellungsbericht: „Die Digitalisierung öffnet ein Gelegenheitsfenster. In diesem scheinbar rein technischen Prozess können und müssen wir herrschende Geschlechterverhältnisse sichtbar machen, Geschlechterstereotype hinterfragen und Machtverhältnisse neu verhandeln. Denn ob wir mit der Gleichstellung der Geschlechter vorankommen oder zurückfallen, hängt von den Rahmenbedingungen und der Gestaltung der digitalen Transformation ab.“ In ihrem Gutachten „Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten“ formuliert die Sachverständigenkommission Handlungsempfehlungen um die Digitalisierung der Arbeitswelt für alle zu stärken.

Ein Lichtblick: Im Vergleich zum Jahr 2017 verringern sich die Chanchenungleichheiten bei der Digitalisierung. Laut der aktuellen JIM-Studie des medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest gilt dies zumindest bei der Hardwareausstattung. So verfügen unter den 12- bis 19-Jährigen zwar nur 21 Prozent der Mädchen im Verhältnis zu 45 Prozent der Jungen über einen eigenen Computer. Bei den Laptops liegen im Jahr 2020 allerding die Mädchen mit 62 Prozent (Jungen 50%) vorn.

In der ersten Phase des Homeschoolings im Frühjahr hat sich bei einer Umfrage unter Eltern zudem gezeigt, dass Mädchen leichter zum Online-Arbeiten für die Schule zu motivieren sind als Jungen. Den Mädchen kommt hier offenbar ihre bessere Lesekompetenz zugute.

Der Girls‘ Day und das Propädeutikum der Hochschule Osnabrück zeigen, dass Mädchen und Frauen Interesse an MINT-Berufen und MINT-Studiengängen haben und entwickeln können, wenn sie praktische Erfahrungen im MINT-Bereich machen. Die Digitalisierung könnte hier zur Chance werden, indem sie den Erfahrungsaustausch zwischen Mädchen und Frauen fördert und ihnen die Möglichkeit gibt, eigene Erfahrungen in diesem Bereich zu sammeln.

Quellen:

Bath, Corinna & Kleinen, Barbara (Hrsg.) (1997): Frauen in der Informationsgesellschaft: Fliegen oder Spinnen im Netz? NUT-Schriftenreihe Band 4. Mössingen-Talheim: Talheimer Verlag.

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2016): Digitale Chancen nutzen. Die Zukunft gestalten. Zwischenbericht der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“.

Dritter Gleichstellungsbericht (2021): Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten. Gutachten für den dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Online unter: https://www.dritter-gleichstellungsbericht.de/de/topic/73.gutachten.html

Erb, Ulrike (1996): Frauenwege in der Informatik. Informatikerinnen zwischen Technikmythos und Nutzenorientierung. In: Greif & Stein (Hrsg.): Ingenieurinnen. Daniela Düsentrieb oder Florence Nightingale der Technik, S. 16–42. Mössingen-Talheim: Talheimer Verlag.

Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (26.01.2021): Newsletter der Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht.

Haraway, Donna (1995): Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. In: Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 33–72.

Hobler, Dietmar; Klenner, Christina; Pfahl, Svenja; Sopp, Peter & Wagner, Alexandra (2017): Wer leistet unbezahlte Arbeit? Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege im Geschlechtervergleich. Aktuelle Auswertungen aus dem WSI GenderDatenPortal. Online unter: https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_35_2017.pdf

Initiative D21 (2016): D21-Digital-Index 2016. Online unter: http://initiatived21.de/app/uploads/2017/01/studie-d21-digital-index-2016.pdf

Initiative D21 (2016): Sonderstudie „Schule Digital“. Online unter: http://initiatived21.de/app/uploads/2017/01/d21_schule_digital2016.pdf

International Telecommunication Union (2016): Measuring the Information Society Report 2016. Online unter: http://www.itu.int/en/ITU-D/Statistics/Documents/publications/misr2016/MISR2016-w4.pdf

JIM-Studie 2020 (Jugend, Information, Medien) des medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest. Online unter: http://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2020/JIM-Studie-2020_Web_final.pdf

Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit (2016a): Junge Frauen und die Digitalisierung: in Anwendung versiert, in Programmierung noch Luft nach oben. Online unter: https://www.kompetenzz.de/Aktuelles/PM-Frauen-Digitalisierung-D21-Digital-Index-2016

Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit (2016b): Online unter: https://www.girls-day.de/mediaserve/filestore/1/5/6/0/0_d91abac38967920/15600_c7c9e8eaa499d78.pdf

Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit (2016c): Daten & Fakten. Online unter: https://www.komm-mach-mint.de/Service/Daten-Fakten

Schelhowe, Heidi (1997): Das Medium aus der Maschine. Zur Metamorphose des Computers. Frankfurt: Campus.

Schwarze, Barbara (2017): Digitalisierung der Arbeitswelt: Neue Anforderungen an Studium, Lehre und Forschung. In: Kempf, Ute/Wrede, Brigitta  (Hrsg.), Gender-Effekte. Wie Frauen die Technik von morgen gestalten, IZG-Forschungsreihe Band 19, 2017, Universität Bielefeld, S. 87-108.

Weiterführende Informationen:

Sammlung von Artikeln zum Thema Gender, Diversity und Corona der Uni Tübingen. Online unter: https://uni-tuebingen.de/einrichtungen/zentrale-einrichtungen/zentrum-fuer-gender-und-diversitaetsforschung-zgd/aktuelles/corona-gender-und-diversitaet/

Die Illusion des geschlechtsneutralen Wissenschaftlers: Eine Science Review von gender2technik zu dem Titel „Fachliche Distinktion und Geschlechterunterscheidung in Technik- und Naturwissenschaften“ von Tanja Paulitz, Susanne Kink, Bianca Prietl.

Foto:  Deedee86 von pixabay

/Deliah Michely

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