Zuletzt aktualisiert am 18. September 2022
Wenn über Wissenschaft und Geschlecht geredet wird, geht es oft darum, welches Bild Menschen von Wissenschaftler*innen haben. Doch wie sehen sich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in den Technik- und Naturwissenschaften selbst? Dieser Frage sind Tanja Paulitz, Susanne Kink und Bianca Prietl nachgegangen.
Sie interviewten 48 Wissenschaftler*innen, darunter 14 Frauen, an österreichischen Universitäten und Technischen Universitäten. Alle Interviewten hatten leitende Positionen inne, sodass sie als Fachvertreter*innen für ihre jeweiligen Gebiete sprechen konnten. Die Forscherinnen wählten bewusst Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Fachgebieten, um die Wissenskultur sowohl aus traditionellen als auch innovativen Forschungsfeldern zu untersuchen. „Im Fokus steht die Frage, wie Akteur_innen in der Wissenschaft ihr spezifisches Fachgebiet, dessen Wissensbestände und ihre Tätigkeit selbst deuten, beschreiben und in vergeschlechtlichter Form hervorbringen. “ (Paulitz et al. 2019: 73)
Das Ideal des geschlechtsneutralen Wissenschaftlers
Paulitz und ihre Kolleginnen fanden heraus, dass Wissenschaftler*innen der Technik- und Naturwissenschaften nicht explizit als Männer oder Frauen der Wissenschaft auftreten. Das Fachgebiet und den Beruf sehen die Grundlagenforscher*innen und Theoretiker*innen als geschlechtsneutral.
In der Untersuchung gehen die Wissenschaftler*innen von sich aus kaum auf das Thema Geschlecht ein. Auf Nachfrage sehen sie jedoch die Problematik der Unterrepräsentanz von Frauen. Jedoch ist das Geschlecht nicht irrelevant, wie Nebenbemerkungen andeuten. Diese latenten Verbindungen zwischen Fach und Geschlecht deuten Paulitz, Kink und Prietl als „Ausdruck der symbolisch zentralen Darstellung von Neutralität, Objektivität und somit Wissenschaftlichkeit“ (Paulitz et al. 2019: 83 f.).
Berufsrelevante Eigenschaften werden Frauen abgesprochen
Die interviewten Wissenschaftler*innen in grundlagenorientierten Fachgebieten betonen Interesse und Wissbegierde als naturgegebene Voraussetzung für die Partizipation in ihrem Wissenschaftsfeld. Diese würde vielen Frauen fehlen. Von den Interviewten wird dies nicht als problematisch hervorgehoben. „Hier wird also das vermeintlich neutrale Erkenntnisinteresse latent mit sozialen Vorstellungen von Geschlecht verbunden – nämlich in verallgemeinerter Form Frauen abgesprochen und dadurch indirekt männlich markiert. “ (Paulitz et al. 2019: 79). Paulitz et al. betonen hier, dass der Zusammenhang von Geschlechtervorstellungen und fachlicher Orientierung das Ergebniss ihrer Analysen ist und von den Interviewpartnern nicht problematisiert wird.
Weitere Eigenschaften eines Grundlagenforschers sind laut den Wissenschaftler*innen geografische Mobilität und orts- und zeitunabhängige Dauerrepräsentanz, welche bei Frauen weniger ausgeprägt sei. Dies macht deutlich, dass die Vorstellung vom Lebenslauf von Frauen nicht mit einer Karriere in der Grundlagenforschung vereinbar ist.
„Die Neigung zur Technik ist männlich“
Auch in den anwendungsorientierten Fachgebieten sehen die Wissenschaftler*innen Schwierigkeiten für Frauen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die zeitliche und örtliche Verfügbarkeit wird auch hier als Hauptargument gesehen. Frauen wird nicht per se die Möglichkeit abgesprochen, Freude an Berufsanforderungen wie zum Beispiel Stress zu haben. Jedoch wird die Neigung zur Technik Männern zugesprochen und damit gleichzeitig Frauen abgesprochen. Dieses Rollenbild entwerfen auch die befragten Wissenschaftlerinnen: „Also erfahrungsgemäß ist es manchmal so, dass die Frauen doch mehr zu den naturwissenschaftlichen und die Männer mehr zu den technischen Dingen tendieren“ (Paulitz et al. 2019: 82).
„Die wissenschaftliche Persona ist männlich“
Paulitz, Kink und Prietl kommen zu dem Schluss, dass die Vorstellungen der Wissenschaftler*innen über Fähigkeiten, Eigenschaften und Lebensmuster von Männern und Frauen die wissenschaftliche Persona als männlich gedachte erkennbar macht. Weder die Naturwissenschaftler*innen noch die Technikwissenschaftler*innen verbinden das jeweils andere Fachgebiet mit Weiblichkeit. Vielmehr entwerfen die Wissenschaftler*innen der verschiedenen Fachgebiete variierende Männlichkeitskonstruktionen. Frauen wird dabei eine elementare Eigenschaft für den wissenschaftlichen Beruf abgesprochen. Das Bild des geschlechtsneutrallen Wissenschaftlers ist somit lediglich eine Illusion.
Natur- wie technikwissenschaftliche Erkenntnissubjekte werden stets – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise – implizit männlich codiert und Frauen durchweg im „Außen“ des wissenschaftlichen Feldes positioniert.
(Paulitz et al. 2017: 83 f.)
Kommentar
Natürlich kann diese Studie nicht die Meinungen aller Natur- und Technik-Wissenschaftler*innen in allen Ländern widerspiegeln. Jedoch zeichnet sie ein klares Bild: Wissenschaftler*innen in leitenden Positionen verbinden ihr Forschungsfeld unbewusst mit Geschlechtervorstellungen, sei es bei den Voraussetzungen oder den Anforderungen der Berufe.
Von dieser unbewussten Verknüpfung und Kategorisierung kann sich laut der Sozialwissenschaftlerin Lina Vollmer niemand ganz frei machen. Unser Gehirn ordne alles in Kategorien ein und erschaffe Stereotype, um den Alltag effizienter zu bewältigen. Neben diesem positiven Effekt führen Stereotype jedoch auch dazu, dass Menschen, die nicht in das Stereotyp passen, in ihren Möglichkeiten eingeschränkt werden. So haben Frauen in technischen Bereichen den Eindruck, ihre Fähigkeiten immer wieder unter Beweis stellen zu müssen. Dies gilt oft auch für Männer in weiblich konnotierten Berufsfeldern oder Tätigkeiten, wie zum Beispiel dem Umsorgen von Kindern oder Angehörigen. Als Folge davon ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für viele Frauen eine Herausforderung und wird es bleiben, solange es in unserer Gesellschaft ungewöhnlich ist, dass Männer und Frauen sich zu gleichen Teilen um ihre Kinder kümmern.
/Deliah Michely